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SOZIALES
„Ruhiggestellt“
Bei der Verschreibung von
fahr, von ihnen abhängig zu werden, über die tatsächliche Intensität und einer regelrechten Odyssee durch ver- angstlösenden Medikamenten
mit Sorge. Vor allem die exzessive die Art der Nutzung speziell in den schiedene Luxemburger Krankenhäu- liegt Luxemburg im europäischen
Vergabe im Bereich der Pflege- und Pflegeheimen lassen sich auf der Ba- Vergleich weit vorn. Gerade
Altenheime ist in die Kritik geraten, sis dieser gemischten Daten also nicht einigen Monaten vermutlich an Herz- älteren Menschen werden schnell
nachdem eine Studie in Deutschland treffen. Beruhigungsmittel verabreicht,
Dabei liegt die Vermutung nah, in Folge der Einnahme von Psycho- um sie „ruhigzustellen“ – mit oft
chen Einrichtungen bis zu vier Mal dass gerade in Pflegeeinrichtungen pharmaka – verstarb. gravierenden Folgen .
derswo. Die Autoren kamen zu dem griffen wird, weil die Betreuung sehr In einer Apotheke in der Nähe des Schluss, dass die Gabe von „ruhigstel- arbeitsintensiv und anstrengend ist In Luxemburg gibt es
und das erforderliche Personal fehlt. keine begrenzende Vor-
gabe von sedierenden Medikamenten, chen älteren Menschen zum standard- schrift. Weder existiert
genauer von Psychopharmaka und mäßigen Therapieschema gehört.
verdient besondere Kritik, da nicht eine eigenständige Ge-
pinen“, antworten die beiden jungen gewählten Seniorenheimen durch- vorausgesetzt werden kann, dass setzgebung, die den
Pharmazeuten wie aus einem Munde: geführt und anschließend im „Deut- Menschen in diesen Einrichtungen Gebrauch dieser Medi-
„Mindestens einer von zwei!“ Jeder schen Ärzteblatt“ veröffentlicht wur- kamente einschränken
zweite Kunde der Apotheke verlange de, erregte in Luxemburg besonderes stimmung zum Einsatz der Medika- Aufsehen, weil hier die Anwendung mente geben (können). Wegen der würde, noch eine Regle-
kung. Doch natürlich gebe es diese von Psychopharmaka in Altenpfle- mentierung der Vergabe
geheimen bislang keinerlei Kontrolle gen, und generell bei bestimmten in den Krankenhäusern.
unterliegt. Auf eine parlamentarische Krankheitsbildern, kann die Gabe maka und Beruhigungsmitteln ist Anfrage des ADR-Abgeordneten Jean von Psychopharmaka sogar ausge- groß in Luxemburg, aber nicht, weil Colombera mussten die Minister di sprochen schädlich sein. Die oben die Zahl der Menschen, die solche Bartolomeo und Jacobs einräumen: genannte Studie in Deutschland kam Jahres einen Schlaganfall erlitt, wur- Medikamente dringend benötigen, „Über den aktuellen Konsum von zu dem Schluss, dass bei vielen Pati- Psychopharmaka in Pflegeheimen enten der Einsatz der Psychopharma- nung – sie lösen die Probleme schnell gibt es in Luxemburg leider keine ka tatsächlich kontraindiziert war. Bei Stunden Wartezeit in der Notaufnah- verlässlichen Studien“. Die einzigen 168 Bewohnern zweier Altenheime in me einer Luxemburger Klinik, bei der gentlichen Ursachen zu beseitigen. verfügbaren Daten zum Medikamen- tenkonsum von älteren Menschen tika die Verursacher von einem vollen wurde, wurde sie mit verschiedenen sellschaft in der jeder funktionieren in Luxemburg beruhten auf den Ver- muss, sind sie eine einfache Lösung“, schreibungen für den ambulanten Be- erläutert Michèle Wennmacher von reich. Diese umfassen auch diejenigen Einzelfallbeispiele, die bekannt später kurzerhand eine Demenz und der Luxemburger Patientenvertretung. Medikamente, die ältere Menschen in werden, weil Angehörige sich aus- Die ausufernde Verschreibungspraxis Pflegeheimen erhalten, weil sie in der nahmsweise trauen, den Mund aufzu- betrachtet die Psychologin wegen der Regel von einem Arzt ambulant ver- machen, geben eine Ahnung von der aufenthalte wurden Bs. Mutter ver- Bedeutung des Problems. So etwa der schiedenste Medikamentencocktails theken ausgegeben werden. Aussagen Fall von Frau B., deren Mutter nach verabreicht, darunter immer wieder woxx  |  24 09 2010  |  Nr 1077
Pillen zur Entspannung? Schätzungen zufolge sind etwa fünf Prozent der luxemburgischen Bevölkerung süchtig nach Benzodiazepinen.
Benzodiazepine und Butyrophenone, Gefahr beträchtlicher Nebenwirkun- gen, insbesondere bei Menschen tienten infolge der Nebenwirkungen fordert. Erst mit dem Entlassungsbe- mit Vorschädigungen am Gehirn. eben solcher Medikamente.
ne“ sind gefährliche Helfer, die zwar Bewegungsstörungen, Verkrampfun- In Frankreich dürfen Medikamente welche Medikamente ihrer Mutter im gen, Fehlleistungen der Muskulatur, aus der Gruppe der „Benzodiazepine“ Krankenhaus und in der Rehaklinik Schlafstörungen, bis hin zu Apathie wegen der Suchtgefahr nur bis zu drei verabreicht worden waren: ein bun- gen und Angstzuständen leiden, eine und Herz-Rhythmusstörungen sind Monate lang verschrieben werden, ter Mix aus Antidepressiva, „Aricept“ in den USA und in der Schweiz nicht und „Kerpa“ und abermals das Neu- länger als vier Wochen. In Luxemburg roleptikum „Haldol“. Gerade letzteres che Gesundheitsrisiken bergen. Das krankungen oder Alkoholmissbrauch gibt es keine begrenzende Vorschrift. Medikament führt bei alten Menschen vor, so stellt sich die Sucht noch Weder existiert eine eigenständige oft zu Rastlosigkeit. cology“ warnt ausdrücklich vor der schneller ein und kann zu Nervener- Verabreichung von Medikamenten krankungen, frühzeitiger Demenz und ser Medikamente einschränkte, noch ne Luxemburger Kliniken und durch aus dieser Gruppe, stellt aber in vier Muskelschwäche führen.
eine Reglementierung der Vergabe in deutsche Reha-Kliniken zog sich noch Erst Ende vergangenen Jahres gab den Krankenhäusern. Die Verantwor- tung liegt offenbar allein beim Arzt. immer wieder feststellen, dass sich mein eine Tendenz zur Verordnung de neue Warnungen zu den Antipsy- dieser Medikamente in europäischen chotika heraus. Die Hersteller sollten nisterium, bei der man Medikamente Willen, ihrer Mutter keine Medika- zodiazepine offenbar leichtfertig re Nebenwirkungen ergänzen. Nach neuer Risikobewertung erhöhen die hausaufenthalt stellte Frau B. schließ- chopharmaka sieht Wennmacher von Standard-Neuroleptika wie „Halope- lich den Antrag, ihre Mutter in eine den war, umschrieb der behandelnde der Patientenvertretung denn auch als ridol“ (=Haldol) und „Melperon“ das Reha-Klinik zu überführen. Der be- großes Problem, „schlimmer noch als Mortalitätsrisiko vor allem bei De- handelnde Neurologe erklärte jedoch zepinen sogar ganz unverblümt als den ‚konventioneller‘ Drogen, gerade menzpatienten und dürfen zukünftig die Verlegung wegen des gestörten „Einsatz der Pharmakeule“, deren Ziel bei einer Demenzdiagnose nicht mehr Schlaf-Wach-Rhythmus der Patientin es schlicht sei, die Patientin „führbar Gerade bei Schlaganfallpatienten che Störung durchaus Folge der Ein- fig zum Einsatz, weil sie als probates ist von ihrer Verabreichung abzuraten, nahme solcher Medikamente sein. ihre Mutter an den Folgen einer fal- Mittel gelten, um nervöse Personen, betont die Pharmazeutische Zeitung in Nach zähen Verhandlungen sicher- einer Meldung vom Dezember 2009, te der Arzt schließlich seine Unter- sionen, ruhigzustellen. Wegen ihrer und auch die US-amerikanische Ge- stützung zu. Da in Luxemburg kein Schlaganfall und der anschließen- schnellen beruhigenden Wirkung sundheitsbehörde warnt vor den Risi- Rehaplatz verfügbar war, wurde die den Einnahme von Psychopharmaka sind Benzodiazepine aber auch in ken von „Haloperidol“ und revidierte Mutter schließlich in eine Klinik nach über ihren Körper verfügen konnte. auf der Grundlage zahlreicher neuer Deutschland gebracht. Zwei Wochen Einer der Ärzte, die ihre Mutter als Fälle ihre Risikoabschätzung. Einer später wurde sie dort jedoch vor die „dement“ eingestuft hatten, hat sich kamenten enthalten. Doch machen Studie der Universität Witten-Herde- Tür gesetzt. Offensichtlich fühlte sich mittlerweile bei ihr entschuldigt. sie rasch abhängig und bergen die cke zufolge sterben in Deutschland das Pflegepersonal von dem starken Ohnehin ist die Demenz-Einstufung 12 REGARDS
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Grundsätzlich sollten Psychopharmaka nur in Absprache mit dem Patienten verschrieben werden. Doch was passiert, wenn der Patient nicht mehr fähig ist, selbst zu entscheiden? grundsätzlich problematisch. Denn die Risiken nicht sehr verbreitet ist“, auch ordnungsgemäß eingesetzt wer- on der Alzheimer Stiftung Luxemburg tor der Reha-Klinik des Centre Hospi- lombera gestellten Fragen nach Fällen und ermangele auch des gebührenden heißt, lediglich ein Oberbegriff für talier Ettelbrück (CHNP).
von Missbrauch, in denen dementen Respekts, moniert Wennmacher. „Das Heimbewohnern zur Ruhigstellung Durchleuchten der Pflegesituation in net sind durch Gedächtnisstörungen, sicht jedoch wenig zu tun. Die par- den sein sollen, gingen die Minister großes Zukunftsprojekt der Patienten- fähigkeit, der Orientierung und des neten Colombera blieb weitgehend gar nicht erst ein. Auch die Frage des vertretung. Und auch die Gleichstel- ergebnislos. Die Antwort der Minister Abgeordneten, ob es in Luxemburg lungsstelle (Centre pour l’Egalité de genügend Pflegepersonal gebe, um Traitement) hat gerade angekündigt, liche Dinge, wie z.B. Zähneputzen, lend: „Die Realität ist, dass alles, was einen menschenwürdigen Umgang zu prüfen, ob ältere Menschen im Be- nicht mehr eigenständig durchgeführt in den Spitälern an Medikamenten mit dementen Heimbewohnern zu reich der geriatrischen Rehabilitation ausgegeben wird, nicht gezählt wird, gewährleisten, ignorierten die beiden diskriminiert werden.
nostizieren, stellt eigentlich nur eine also nicht statistisch erfassbar ist. Das Minister geflissentlich. Ausschluss-Diagnose dar“ erläutert ist das große Problem. Sie können da Wennmacher. Depressionen muteten ruhig 20 Tabletten von Temesta ge- gepersonal nur unzureichend und und ermutigt sie ausdrücklich, Briefe sehr oft als Demenz an; sicher könne ben, das wird nicht aufgeschrieben, schlecht ausgebildet oder mit der an das Gesundheitsministerium zu und deswegen gibt es keine Statistik Pflege dementer Menschen schlicht schreiben. „Denn erst die Masse von überfordert ist, dürfte eine der Haupt- Beschwerden richtet etwas aus. Wenn ursachen für den schnellen Griff zur es sich häuft, muss das Ministerium Medikamentenkeule im Pflegebereich reagieren“.
Benzodiazepine sieht Frau B. heute Insgesamt werde
nicht genug und nicht
respektvoll genug mit
Monate nach dem Ableben der Mutter den älteren Menschen
umgegangen.
Diskriminierung älterer Menschen“ maka fallen Schlaf- und/oder Beru- eingereicht hat, und durch Gespräche higungsmittel sowie opiathaltige Me- mit Behörden möchte sie vor allem dikamente. Sie werden in Luxemburg Colombera. maka warnen. Sie hofft darauf, das aller über 75-Jährigen, regelmäßig ein- Thema ins öffentliche Bewusstsein genommen. Laut der von den beiden sich nicht von ungefähr auf Pflege- nen, dass auch in Luxemburg in dem gieren Neuroleptika erst auf dem 40. rin, über Risiken aufzuklären und laxen Umgang mit Psychopharmaka Rang und werden damit von knapp den Betroffenen „alternative Therapi- tritt. „Das Risikobewusstsein müsste se Ziffern gäben jedoch keinerlei Auf- verbessert werden, da das Wissen um schluss darüber, ob die Medikamente Luxemburg.

Source: http://ama.lu/docs/woxx1077_medikamente.pdf

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