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Siri Hustvedt
Copyright 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Eine Weile nachdem er das Wort Pause ausgesprochen
hatte, drehte ich durch und landete im Krankenhaus. Er sagte nicht: Ich will dich nie wiedersehen, oder: Es ist aus, doch nach dreißig Jahren Ehe reichte Pause, um aus mir eine Geisteskranke zu machen, in deren Hirn die Gedanken platzten, wild herumfuhrwerkten und von‑einander abprallten wie Popcorn in einer Mikrowellen‑tüte. Diese traurige Feststellung machte ich in meinem Bett in der Psychiatrie, so mit Haldol zugedröhnt, dass ich mich kaum bewegen wollte. Die garstigen rhyth‑mischen Stimmen waren leiser geworden, aber nicht verschwunden, und wenn ich die Augen schloss, sah ich Comicfiguren über rosa Hügel sausen und in blaue Wäl‑der verschwinden. Dr. P. diagnostizierte dann eine akute vorübergehende psychotische Störung, auch bekannt als Durchgangssyndrom, was bedeutet, dass man wirklich verrückt ist, aber nicht lange. Wenn es länger als einen Monat anhält, braucht man ein anderes Etikett. Offenbar gibt es für diese spezielle Form von Störung häufig einen Auslöser oder «Stressor», wie es im psychiatrischen Jargon heißt. In meinem Fall war das Boris, oder vielmehr die Tatsache, dass eben kein Boris da war, dass Boris seine Pause machte. Sie behielten mich anderthalb Wochen da, dann ließen sie mich gehen. Eine Zeitlang wurde ich ambulant behandelt, bis ich Frau Dr. S. mit ihrer tiefen musikalischen Stimme, ihrem verhaltenen Lächeln und ihrem guten Ohr für Lyrik fand. Sie stützte mich, stützt mich eigentlich immer noch.
Ich erinnere mich ungern an die Verrückte. Ich schäme
mich für sie. Lange scheute ich mich, mir anzusehen, was sie während ihres Aufenthalts auf der Station in ein schwarz‑weißes Notizbuch geschrieben hatte. Ich wusste, was in einer Handschrift, die meiner überhaupt nicht ähnlich sah, auf den Einband gekritzelt war: hirn-scherben, aber ich schlug es nie auf. Ich hatte Angst vor ihr, wissen Sie. Als meine Tochter Daisy mich be‑suchen kam, ließ sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Ich weiß nicht genau, was sie sah, aber ich kann es mir vorstellen, eine immer noch verwirrte Frau, mit einem durch die Nahrungsverweigerung abgemagerten und die Medikamente erstarrten Körper, ein Mensch, der nicht angemessen auf die Worte seiner Tochter reagieren, sein eigenes Kind nicht in den Arm nehmen konnte. Und dann, als sie ging, hörte ich, wie sie sich mit einem unter‑drückten Schluchzer bei der Krankenschwester beklagte: «Es ist, als wäre sie nicht meine Mom.» Damals war ich nicht bei mir, aber mich jetzt an diesen Satz zu erinnern ist eine Qual. Ich verzeihe mir das nicht.
Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber
glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Recht‑eckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte. Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt. Boris, dem die schneeweißen Locken in die Stirn fallen, während er ne‑ben den Käfigen mit den genmanipulierten Ratten nach der besagten Pause grapscht. Ich sehe die Szene immer im Labor vor mir, obwohl das wahrscheinlich falsch ist. Dort waren die beiden selten allein, und das «Team» hätte lautstarkes Gefummel in der Nähe sicher bemerkt. Viel‑leicht suchten sie in einer Toilettenkabine Zuflucht, wo mein Boris seine Forscherkollegin bearbeitete, bis ihm die Augen in ihren Höhlen nach oben rollten, als er sich der Entladung näherte. Das kannte ich alles. Ich hatte seine Augen tausendmal nach oben rollen sehen. Die Banalität der Geschichte – die Tatsache, dass sie jeden Tag ad nau-seam von Männern wiederholt wird, die plötzlich oder allmählich entdecken, dass, was ist, nicht sein muss, und dann handeln, um sich von den alternden Frauen zu befreien, die sie und ihre Kinder jahrelang versorgt haben – dämpft nicht das Elend, die Eifersucht und die Demüti‑gung, die die Verlassenen überkommt. Betrogene Frauen. Ich heulte und schrie und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich machte ihm Angst. Er wollte Frieden, er wollte allein sein, um mit der kultivierten Neurowissenschaft‑lerin seiner Träume seiner Wege zu gehen, einer Frau, mit der er keine Vergangenheit, keine Altlasten, keinen Kummer und keine Konflikte hatte. Und doch sagte er Pause, nicht Stopp, um die Geschichte offen zu halten, für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Ein grau‑samer Hoffnungsschimmer. Boris, die Wand. Boris, der nie schreit. Boris auf dem Sofa, kopfschüttelnd und zer‑knirscht. Boris, der Rattenmann, der 1979 eine Dichterin heiratete. Boris, warum hast du mich verlassen? Ich musste aus der Wohnung, weil ich es dort nicht
mehr aushielt. Die Zimmer und die Möbel, die Geräusche von der Straße, das Licht, das in mein Arbeitszimmer fiel, die Zahnbürsten auf der kleinen Ablage, der Schlafzim‑merschrank mit dem fehlenden Knauf – sie waren alle gleichsam schmerzende Knochen geworden, ein Gelenk, eine Rippe oder ein Wirbel in einer strukturierten Ana‑tomie gemeinsamer Erinnerungen; jedes vertraute Ding, bleiern von den darin gespeicherten Bedeutungen, wog schwer in meinem Körper, und ich merkte, dass ich die Last nicht länger tragen konnte. Also verließ ich Brooklyn und fuhr über den Sommer nach Hause in das Provinz‑nest, das mitten in der ehemaligen Prärie von Minnesota liegt, dorthin, wo ich aufgewachsen war. Dr. S. war nicht dagegen. Wir würden wöchentliche Telefonsitzungen ab halten, außer im August, wenn sie wie immer Ferien machte. Die Universität hatte «Verständnis» für meinen Zusammenbruch gehabt, und im September würde ich meine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Es sollte die Aus‑zeit zwischen einem durchgeknallten Winter und einem geistig gesunden Herbst sein, ein ereignisloser Hohlraum, den ich mit Gedichten füllen konnte. Ich würde Zeit mit meiner Mutter verbringen und Blumen auf das Grab meines Vaters legen. Meine Schwester und Daisy würden mich besuchen kommen, und ich war engagiert worden, im Kulturforum des Ortes einen Poesiekurs für Jugend‑liche zu veranstalten. «Preisgekrönte einheimische Dich‑terin bietet Workshop an» stand in den Bonden News. Der Doris‑P.‑Zimmer‑Preis für Lyrik ist eine unbedeutende Auszeichnung, die mir wie aus dem Nichts zugefallen war und ausschließlich Frauen zugesprochen wird, deren Werk als «experimentell» gilt. Ich hatte diese zweifelhafte Ehrung und den freundlicherweise damit verbundenen Scheck, wenn auch mit Vorbehalten, angenommen, nur um dann herauszufinden, dass irgendein Preis besser ist als keiner, dass der Ausdruck «preisgekrönt» einem Dich‑ter, der in einer Welt lebt, die nichts von Gedichten ver‑steht, einen brauchbaren, obwohl rein dekorativen Glanz verleiht. Wie John Ashbery einmal sagte: «Ein berühmter Dichter zu sein ist nicht dasselbe, wie berühmt zu sein.» Und ich bin keine berühmte Dichterin.
Ich mietete ein kleines Haus am Stadtrand, nicht weit
von der Wohnung meiner Mutter in einem Gebäude aus‑schließlich für Alte und Uralte. Meine Mutter wohnte im Bereich der Selbständigen. Trotz Arthritis und ver‑schiedener anderer Beschwerden, darunter hin und wie‑der gefährlich steigender Blutdruck, war sie mit sieben‑undachtzig bemerkenswert agil und klar im Kopf. In der Wohnanlage waren noch zwei weitere Bereiche – für die, die Hilfe brauchten, «Betreutes Wohnen» und das «Pfle‑gezentrum», die Endstation. Dort war mein Vater sechs Jahre zuvor gestorben, und obwohl es mich einmal dort‑hin gezogen hat, war ich nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, ehe ich umkehrte und vor dem väterlichen Geist floh.
Ich habe keinem Menschen hier etwas von deinem
Krankenhausaufenthalt erzählt», sagte meine Mutter mit besorgter Stimme und sah mich mit ihren ausdrucksvol‑len grünen Augen unverwandt an. «Das braucht keiner zu wissen.» Den Tropfen Leid werd’ ich vergessender mich nun verbrüht – nun verbrüht! Emily Dickinson # 193, zu Hilfe. Adresse: Amherst.
Den ganzen Sommer über flogen mir solche Zeilen und Sätze zu. «Wenn ein Gedanke ohne einen Denken‑den daherkommt, könnte es ein ‹streunender Gedanke› sein oder ein Gedanke mit dem Namen und der Adresse seines Besitzers oder ein ‹wilder Gedanke›», sagte Wilfred Bion. «Das Problem, wenn so etwas daherkommt, ist, was man damit anfängt.» Zu beiden Seiten meines gemieteten Hauses standen
Blocks mit Neubauwohnungen, aber der Blick aus dem rückwärtigen Fenster war unverbaut. Zuerst sah man einen kleinen Garten mit einer Schaukel, dahinter ein Maisfeld und dahinter ein Luzernenfeld. In der Ferne waren ein Wäldchen, die Umrisse einer Scheune, ein Silo und darüber der weite, ruhelose Himmel. Der Blick gefiel mir, aber das Hausinnere verstörte mich, nicht, weil es hässlich war, sondern weil es prallvoll war mit dem Leben seiner Eigentümer, eines jungen Professorenpaars mit zwei Kindern, die sich über den Sommer mit irgendei‑nem Forschungsstipendium nach Genf abgesetzt hatten. Als ich meine Reisetasche und die Bücherkisten abgestellt und mich umgesehen hatte, fragte ich mich, wie ich mich in diesen Ort einfügen würde, mit seinen Familienfotos und Zierkissen unbekannter asiatischer Herkunft, seinen Reihen von Büchern über Staatsgewalt, Weltgerichtshöfe und Diplomatie, seinen Kisten voller Spielzeug und dem in der Luft hängenden Geruch von Gott sei Dank nicht anwesenden Katzen. Ich hatte den düsteren Gedanken, dass es für mich und meine Sachen selten Platz gegeben hatte, dass ich immer ein Schreiberling in gestohlener Zwischenzeit gewesen war. In der ersten Zeit hatte ich am Küchentisch gearbeitet und war zu Daisy gelaufen, wenn sie aufwachte. Der Unterricht und die Lyrik meiner Studenten – Gedichte ohne Dringlichkeit, mit «literari‑schen» Schnörkeln und Bändern herausgeputzte Gedichte – hatten sich mit unzähligen Stunden davongemacht. Andererseits hatte ich auch nicht für mich gekämpft, oder vielmehr nicht in der richtigen Weise. Manche Leute nehmen sich einfach, was sie brauchen, indem sie Eindringlingen gegenüber ihre Ellbogen benutzen. Boris konnte das, ohne einen Muskel zu bewegen. Er brauchte nur «mucksmäuschenstill» dazustehen. Ich war ein lautes Mäuschen, eins, das in den Wänden kratzt und Krawall macht, aber irgendwie änderte das nichts. Es ist die Magie von Autorität, Geld, Penissen.
Vorsichtig legte ich die gerahmten Bilder in eine Kiste, vermerkte auf einem kleinen Streifen Klebeband, wohin jedes einzelne gehörte. Ich faltete mehrere kleine Teppiche zusammen und verstaute sie mit ungefähr zwanzig über‑flüssigen Kissen und Kinderspielen, und dann putzte ich systematisch das Haus, entfernte Wollmäuse, in denen Büroklammern, abgebrannte Streichhölzer, Katzenstreu, mehrere zerdrückte M & Ms und nicht identifizierbarer Abfall verfilzt waren. Ich scheuerte die drei Waschbecken, die zwei Klos, die Badewanne und die Dusche, bis sie weiß waren. Ich putzte die Küche, entstaubte und reinigte die völlig verdreckten Deckenlampen. Die Säuberungsaktion dauerte zwei Tage, mir tat danach alles weh, und ich hatte mehrere Schnittwunden an den Händen, aber die Zim‑mer sahen nach der heftigen Maßnahme konturierter aus. Die muffigen, unbestimmten Kanten jedes Gegenstands in meinem Gesichtsfeld hatten eine Präzision und Deut‑lichkeit bekommen, die mich, zumindest vorübergehend, aufmunterte. Ich packte meine Bücher aus, richtete mich in dem Raum ein, der das Arbeitszimmer des Hausherrn zu sein schien (Indiz: Pfeifenraucherutensilien), setzte mich hin und schrieb: Verlust.
Eine gewusste Abwesenheit.
Wüsstest du nicht von ihr,wäre sie nichts,was sie natürlich ist,ein Nichts von anderer Art,so stark empfunden wie eine Blase,aber auch ein Aufruhrin der Gegend von Herz und Lunge,eine Leere mit einem Namen: Du.
Meine Mutter und ihre Freundinnen waren Witwen.
Ihre Männer waren größtenteils seit Jahren tot, sie jedoch hatten weitergelebt, und im Weiterleben hatten sie ihre verstorbenen Männer zwar nicht vergessen, schienen sich aber auch nicht an die Erinnerung an ihre begrabenen Gatten zu klammern. Tatsächlich hatte die Zeit die alten Damen stark gemacht. Insgeheim nannte ich sie Die fünf Schwäne, die Elite des Ostflügels von Rolling Meadows, Frauen, die sich ihr Ansehen nicht durch bloße Lang‑lebigkeit oder das Fehlen körperlicher Gebrechen (sie alle kränkelten auf die eine oder andere Weise) verdient hatten, sondern weil den fünfen eine geistige Frische und Autonomie eigen war, die ihnen einen Anstrich von benei‑denswerter Freiheit gab. George (Georgina), die Älteste, räumte ein, dass die Schwäne Glück gehabt hatten: «Bis‑lang haben wir noch alle Tassen im Schrank», witzelte sie. «Natürlich weiß man nie. Wir sagen immer, dass jeder‑zeit irgendwas passieren kann.» Dabei nahm sie die rechte Hand von ihrem Rollator und schnipste mit den Fingern. Die Reibung war jedoch zu schwach und erzeugte kein Geräusch – was sie einzusehen schien, denn ihr Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Ich erzählte George nicht, dass meine Tassen weg ge‑ wesen und wieder da waren, dass mich ihr Verlust zu Tode erschreckt hatte, und auch nicht, dass mir, während ich mit ihr plaudernd in dem langen Flur stand, eine Zeile von einem anderen George einfiel, Georg Trakl: In kühlen Zimmern ohne Sinn. In kühlen sinnlosen Zimmern.

Source: http://bibliosp.ch/inhalt/wp-content/uploads/2011/05/Hustvedt_Sommer.pdf

Francis w

Boston Preparatory Charter Public School 1286 Hyde Park Avenue, Hyde Park MA 02136 Dear Boston Prep Parent/ Guardian, Time to start planning for the 2013-2014 school year! The following information is VERY IMPORTANT:  Please COMPLETE ALL OF THE FORMS provided in this packet. DUE DATE: AUGUST 27, 2013  Remember that the nurse cannot administer ANY medications (such as tyl

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Acarbose: an alternative to metformin for fi rst-line treatment in type 2 diabetes? Most guidelines currently recommend metformin as and acarbose showed a signifi cant rise in GLP-1 Published Online the fi rst-line treatment for type 2 diabetes1–3 on the basis concentrations from 24 weeks onwards, although October 18, 2013of data mostly generated in European populations. the decrease

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